Reden Stolperstein Sadunischker
Übersetzung aus dem Englischen von Elke und Gerhard Sonnet
für Martin, Gertrud und Mark Sadunischker
am 14. Juli 2007
Vivian und Tom Prunier
Sarah und David Prunier
Toms Ansprache
Dankeschön für diese Gelegenheit, Euch zu treffen und mit Euch zu reden.
Ich kam, um den Holocaust von einem anderen Gesichtspunkt aus kennen zu lernen, da ich nicht als Jude geboren bin. Die Frage stellte sich mir nicht, bis ich Vivian und ihre Familie traf, so daß ich etwas über die verschlossen gehaltenen Schmerzen und Qualen erfuhr, die dem Verlust der Gemeinschaft und vieler naher Familienangehöriger folgten. Die Schmerzen waren so heftig, daß sie anderen gar nicht mitgeteilt werden konnten. Sie mußten in den Herzen der Menschen begraben werden, denn es war zu qualvoll, sie in das Bewußtsein der heutigen Zeit zu bringen. Für die Generation unserer Eltern bedeutete das die Ablehnung, über das alles zu sprechen.
Eben jetzt hören wir von Verlusten, über die niemals in der Öffentlichkeit gesprochen wurde. Unsere Generation hat für die Ereignisse ein offenes Ohr, aber noch wollten wir die Dinge auf die Seite schieben, damit sie nicht unser Leben vereinnahmen. Aber ein Problem nicht ans Licht kommen zu lassen, ist nicht der wirkungsvollste Weg, es zu lösen. Immer wieder geschehen Dinge, die die Ereignisse an die Oberfläche unseres Bewußtseins bringen und das wäre eine Gelegenheit, sich teilnehmend in die Vergangenheit hineinzuversetzen. Diese Gelegenheit ist heute für uns da. Was jedoch ist das Besondere des heutigen Tages: Eure Anwesenheit und Liebe. Indem ich weiß, daß Ihr alle von den Problemen gepackt seid und ernsthaft innerlich mit ihnen ringt, auch zusammen mit anderen, verändert sich bei Euch die Qualität dieser Erfahrungen. Die Fähigkeit, mit Euch unseren Schmerz zu teilen, läßt uns ein wenig die Schmerzen erträglicher empfinden, weil wir wissen, daß Ihr sie ebenfalls in Euch tragt und daran arbeitet. Vielleicht noch wichtiger ist, daß Euer Zeugnis [Eure Anteilnahme] uns darüber nachdenken läßt, die Worte „Wir“ und „Ihr“ richtigerweise durch „Uns“ zu ersetzen.
Vielen Dank dafür, daß Ihr dieses Ereignis möglich gemacht habt, das uns allen hilft, daran zu wachsen und [Wunden] zu heilen.
Sarahs Brief
verlesen von ihrem Ehemann David:
Zuerst entschuldige ich mich dafür, heute nicht anwesend sein zu können. International zu reisen, ist nicht immer so einfach wie es aussieht. Unglücklicherweise flog mein Flugzeug ohne mich ab. Ich werde morgen ankommen und an diesem Gedenkstein innehalten. Ich bin enttäuscht darüber, daß es mir nicht gelungen ist, mit Euch zusammengekommen zu sein.
Ich wollte Euch allen für Euer Kommen und für die Verlegung des Gedenksteins [Stolpersteins] danken. Ich bin froh, daß meine Großtante, mein Großonkel und seine Familie nicht vergessen sind, heute gedenken wir ihrer und betrauern ihren frühen Tod.
Ich erinnere mich heute nicht nur an sie. Heute wollen wir alle an die Kusinen und Vettern denken, die keine Chance hatten, geboren zu werden. Ich wüßte gerne, wie sie ausgesehen hätten, hätte gern mit ihnen auf unseren Hochzeitsfeiern getanzt, ob sie mich in den Sommerferien besucht hätten? Wir können es nicht wissen.
Es muß viele dieser Gedenksteine geben und noch viel mehr sind zu verlegen. Sie sollen Euch, den Menschen in Berlin, dazu dienen, die Menschen, die Eure Freunde, Mitarbeiter oder vielleicht Vettern und Kusinen sein könnten, und eigentlich hier sein sollten, nicht zu vergessen. Wir brauchen diese Tafel hier, damit die Leute, die darüberlaufen, an die Kinder denken, die niemals in diesem Hof gespielt oder auf diesem Bürgersteig Seilchen gesprungen sind.
Danke für Euer Kommen heute und Sich-Erinnern an meine Familie. Bitte, vergeßt sie niemals, auch nicht diejenigen, die keine Chance zum Leben bekamen.
Vivians Ansprache
Sarah ist heute nicht hier.
Danke für die Widmung dieses Stolpersteins für das Gedenken an meinen Großonkel Martin und seine Familie. Dank Euch für
Eure Neugier, zu wissen was geschehen ist Euren Mut, Eurer Geschichte ins Angesicht zu sehen Euer Angebot zur Versöhnung und Freundschaft.
Als ich von dieser Einweihung hörte, wußte ich, daß ich heute hier sein muß. Bis zum heutigen Tag hatte ich kein Verlangen, nach Deutschland zu kommen. Ich hatte nicht den Wunsch, einen Ort zu besuchen, an dem Verbrechen geschehen waren.
Aber ich konnte die Gelegenheit, meinen Onkel und seine Familie zu ehren, nicht vorüber gehen lassen, sie nicht ablehnen. Ich konnte die mir freundschaftlich entgegengestreckte Hand nicht ausschlagen.
Ich wünschte, meine ganze Familie wäre mitgekommen. Wie Ihr seht, bin ich hier mit meinem Ehemann Tom und meinem Schwiegersohn David. Vor kurzer Zeit las David einen Brief meiner Tochter Sarah, die ihren Dank für den Stolperstein zum Ausdruck brachte und bedauerte, heute nicht hier sein zu können.
Das bringt mich zu einer Nachricht für Euch: Sarah ist heute nicht hier.
Meine Tochter ist heute nicht hier. Durch ungeschickte Planung und durch Pech verpaßte sie ihren Flug. Sie wird morgen um 9.35 Uhr in Tegel ankommen. Ihr könnt sie dann hier treffen. Ich bin überzeugt davon, daß Ihr gern mit der jungen Frau zusammenkommt, die solch eine schöne Rede geschrieben hat.
Sarah ist Lehrerin in einer Montessori – Schule in Los Angeles. Dort wachen zehn Kinder auf, um mit Eifer in die Schule zu gehen. Sie lieben die Schule, weil Sarah ihre Lehrerin ist. Inges Enkelkinder gehen in eine Montessori – Schule. Sarah könnte ihre Lehrerin sein. Aber Sarah ist heute nicht hier.
Sarah singt wie ein Engel. Am Sabbatgottesdienst in der amerikanische Synagoge stimmt sie mit ihrer wunderschönen Stimme in den Gesang der Gottesdienstbesucher ein, der den ganzen Raum ausfüllt, zum Lobpreis und Jubel. Bei jeder Versammlung führt sie den Gesang an. Wenn Sarah hier wäre, würden wir alle mittlerweile singen. Aber Sarah ist heute nicht hier.
Sarah bringt Frieden. Seit ihrer frühen Kindheit hat sie Streitigkeiten ausgleichend begleitet. Sie ist in der Lage, Leute von ihrem Zorn abzubringen. Sarah führt die Leute zu neuen Wegen, die Dinge zu betrachten, so daß sie ihre Einstellung, sich Problemen zu nähern, ändern. Sarah nutzt dieses Geschenk auf schmalen und breiten Wegen jeden Tag. Aber Sarah ist heute nicht hier.
Bevor sie geboren wurde, erklärte ich meinem Vater, daß dann, wenn das Kind ein Mädchen ist, wir ihr den Namen Sarah geben wollen. Mein Vater sagte: „Wie kannst Du ein Kind Sarah nennen! Weißt Du nicht, daß Hitler alle jüdischen Frauen gezwungen hat, den Namen `Sarah` anzunehmen? Er tat das, um uns zu erniedrigen.“
Ich entgegnete: „Sarah ist ein wunderschöner Name. Sarah bedeutet auf Hebräisch Prinzessin. Die biblische Sarah war eine weise Frau mit einem Sinn für Humor. Du bist wohl dabei, Hitler einen würdigen, guten Namen in den Schmutz ziehen zu lassen?
Mein Vater erkannte, daß dieses eine neue Möglichkeit war, Hitler [bedeutet wohl: Bildlich gesehen, dessen Ungeist, der in manchem unbelehrbaren Kopf leider noch zu finden ist] zu widerstehen. Laß sie Sarah sein. Mein Vater erlebte, wie seine geliebte Enkeltochter aufwuchs als ein Kind, das ihm geradezu anbetungswürdig erschien, ein reizendes Kind, später eine vollendete, begabte junge Frau. Sarah war 20 Jahre alt, als ihr Großvater verstarb.
Der Vetter meines Vaters, Mark, hat es nicht erlebt, seine Enkelin zu sehen. Er konnte keine Enkelin oder Kinder haben, weil er mit 16 Jahren umgebracht worden ist.
Meine Tochter Sarah, die einzige, die in Los Angeles lebt, und ihr Flugzeug verpaßt hatte, repräsentiert in ihrer Abwesenheit alle Enkelinnen meiner Vätergeneration. Alle diese Sarahs sind heute nicht hier.
(Ende der Reden)
Vivians nachträgliche Gedanken
In einem Brief im Anschluss an die Stolpersteinsetzung schrieb Vivian:
Die Einweihung war eine wundervolle Erfahrung für mich. Sie war wirklich ein Wendepunkt in meinem Leben. Sie half mir, die Bitterkeit hinter mir zu lassen, die ich mein ganzes Leben lang mit mir getragen habe. Ich weiß jetzt, daß ich Freunde in Deutschland habe – Menschen, die sich darum kümmern, was mit meiner Familie geschehen ist und die mich in meinem Kummer trösten wollen. Und als ich zum Sabbatgottesdienst in der einzigen noch verbliebenen Vorkriegs-Synagoge von Berlin ging, die vertrauten Gebete sang, den Rabbiner und die anderen Gottesdienstbesucher begrüßte, verinnerlichte ich, daß ich heimgekommen bin.
Ich bin Euch sehr, sehr dankbar dafür, daß Ihr meine Familie mit dem Stolperstein ehrt und besonders dafür, daß man mir geholfen hat, nach Berlin nach Hause zu kommen.